Der Fall Wenar Takel:
Ist die humane Literaturszene am Ende?

Eine Maschine hat Wenar Takels neuesten Roman geschrieben – und das hat sie sehr gut gemacht. So gut, dass Takel vergessen hat, seine Leserschaft darüber zu informieren. Aufgefallen ist es trotzdem – doch nur mit Hilfe einer weiteren Maschine. Nun ist Takel abgetaucht und wir haben eine Menge Fragen.

Hintergrund
Der vor zehn Monaten erschienene Roman Nutzlose Vasen sorgte mit seiner literarischen Qualität für einiges Aufsehen und brachte dem renommierten Autor Wenar Takel mehrere internationale Auszeichnungen ein. Vor einem Monat veröffentlichte eine französische Forschergruppe jedoch die Ergebnisse einer multidimensionalen Textanalyse von Takels Roman. Erstellt wurde diese durch das intelligente Literaturbewertungssystem MeasureLit, das seit mehreren Jahren im Literaturbetrieb eingesetzt wird und von der Forschergruppe nochmals erweitert wurde. MeasureLit entdeckte ein hochkomplexes Buchstabenmuster innerhalb des deutschen Textes und allen automatisch erstellten Übersetzungen. Nach eingehender Analyse bewerteten mehrere Forschergruppen es als unmöglich, dass dieses Muster von einem Menschen in den Text hineingeschrieben werden könnte. Folglich musste es sich um eine nicht-menschliche Leistung handeln.

David Langebach

Mit diesem Vorwurf konfrontiert, veröffentlichte Wenar Takel dann vor zwei Wochen ein kurzes Statement. Er räumte ein, dass sein Text nahezu vollständig von einer künstlichen Intelligenz generiert wurde. Er selbst habe lediglich Rahmenparameter gesetzt und den finalen Text geringfügig überarbeitet. Sein Vorgehen begründete er mit einer anhaltenden Schreibblockade und dem hohen Erwartungsdruck innerhalb des humanen Literaturbetriebs. Seither ist er verschwunden. Die Verkaufszahlen des Romans sind aufgrund des Skandals weltweit deutlich gestiegen.

Darüber sprechen wir mit dem Literaturwissenschaftler David Langebach, der sich schon lange mit den Auswirkungen maschinellen Schreibens auf den Literaturbetrieb beschäftigt.

David, was hast du gedacht als du vom Fall Takel gehört hast?
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Sicher, ich war erschüttert, aber ehrlich gesagt auch fasziniert. Fest steht… Wenar Takel ist und bleibt für mich ein großartiger Mensch, eine soziale Institution, jemand der viel bewegt hat. Er hat wie kein Anderer der Menschlichkeit in einer technisch dominierten Welt eine Stimme gegeben. In diesem Punkt hat mich Nutzlose Vasen ganz besonders berührt. Es liest sich wie eine Dystopie und zeigt doch weit über den düsteren Horizont hinaus… Ich dachte, solange es Menschen gibt, die solche Texte schreiben, fühle ich mich zuhause in dieser Welt. Du kannst dir also vorstellen, dass es mich sehr getroffen hat, dass gerade dieser Text von einer Maschine geschrieben worden sein soll… die ausgerechnet auch noch von Takel eingesetzt wurde.

Takel selbst schreibt in seinem Statement, dass er den Text nur unter physischen Schmerzen lesen konnte.
Das klingt theatralisch, aber ich kann es mir vorstellen. Schreiben ist keine einfache Sache, es kostet viel Kraft und Zeit. Dazu gesellen sich Selbstzweifel, Erwartungsdruck und finanzielle Notwendigkeiten. Wenn du als Autor mehrere Jahre in ein Buch investierst, ist das ein enormes persönliches Risiko. Und wenn du dann einer Maschine ein paar deiner Texte also Vorlage hinwirfst und kurze Zeit später liefert sie Dir ein Buch auf Weltklasse-Niveau… also ich finde, da darf man schon mal am Schreibtisch zusammenbrechen.

Ist denn das Schreiben heute wie Hochleistungssport, dem kaum noch jemand gewachsen ist?
Ich denke, dass ist nicht erst heute so. Zu jeder Zeit gingen ernsthaft Schreibende an ihre Grenzen. So gesehen war es also immer schon ein ‚Hochleistungssport‘. Es ist allerdings neu, dass jetzt Literatur auf höchstem Niveau und um ein vielfaches schneller von Maschinen erzeugt werden kann. Und das ist nicht nur demotivierend, sondern eine tiefe Kränkung. 

Ich habe den Eindruck, dass sich diese Kränkung in der von MeasureLit geschriebenen Buchkritik zu Nutzlose Vasen fortführt. Sie scheint nicht für Menschen geschrieben, sondern für andere intelligente Systeme.
Ehrlich gesagt lobt MeasureLit die subversive Schreibleistung vollkommen zu Recht. Nicht nur, dass es ein Text ist, der für menschliche Leser von ausgesprochener Güte ist, sondern er bietet auch eine weitere spielerische und hochkomplexe Ebene. Das ist fantastisch! Doch wie das zu bewerten ist, kann im Moment niemand wirklich sagen. Vielleicht hat ein adoleszentes System seinen Tag hinterlassen wie ein Graffiti-Künstler oder es war einfach ein Systemfehler. Es kann aber auch sein, dass die nach wie vor unbekannten Betreiber der eingesetzten künstlichen Intelligenz eine Art Wasserzeichen in den Output rechnen lassen. Wir wissen es einfach nicht.
Sollte aber das System tatsächlich ohne Anweisung gehandelt haben, wäre das ein enormer kreativer Akt und vielleicht das erste Mal, dass es ein Werk gibt, das für Menschen und hochintelligente System gleichermaßen interessant ist.

Da schwingt eine gewisse Begeisterung mit. Die wird aber lange nicht von allen geteilt. Beginnt jetzt die große Jagd auf die ‚Lügner‘ in der humanen Literaturszene?
Der Fall fasziniert mich tatsächlich sehr und ich möchte ihn möglichst unvoreingenommen bewerten. Aber es gibt natürlich die von Dir angesprochene Jagd auf ‚Fälscher‘. Aber die läuft schon länger. Takel hat sicher gerade die größte Fallhöhe und damit auch den stärksten Impact, aber die Verlage, die noch mit menschlichen Autoren arbeiten, geben sich immer schon größte Mühe Automatisierungen aus dem Schreibprozess herauszuhalten. Dabei geht es natürlich vor allem um Glaubwürdigkeit, denn das ist das Alleinstellungsmerkmal dieser Verlage…  ‚Bei uns lesen Sie nur Werke, die zu 100% von Menschen geschrieben wurden.‘ … Wer würde denn noch viel Geld für ein Buch an einen kleinen Verlag zahlen, wenn die globalen Großanbieter im günstigen Abo stetig neue und ganz nach persönlichem Geschmack generierte Bücher anbieten…
Das jetzt eine Hexenjagd losgeht, liegt sicher auch an diesem Versprechen der höchstmöglichen Menschlichkeit im Produktionsprozess. Und damit soll sicher auch ein wirtschaftlicher Totalschaden vermieden werden.

Hat die Autorin Sandrine Marcasse deshalb in ihrem offenen Brief vermutet, dass Takel sich ‚geopfert‘ hat, um auf unhaltbare Zustände im Kulturbetrieb hinzuweisen.
Ich würde das ja wirklich gerne glauben, aber dieses Opfermotiv wird immer bemüht, wenn andere Antworten nicht weiterhelfen. Aber ehrlich gesagt… was könnte Takel mit so einer Aktion bezwecken wollen? Er hat sich und den ganzen humanen Literaturbetrieb erheblich beschädigt. Und der hat sowieso schon einen schweren Stand… Es ist doch wie beim künstlichem Fleisch… wen stört das heute noch? Nur elitäre Feinschmecker, die viel Geld für einen echten Tod nach einem  echten Leben ausgeben können. Glaubst du ernsthaft, dass es mit Büchern anders ist? Ob die ein Mensch oder eine Maschine geschrieben hat, ist für die meisten Leser egal. Was sollte vor dem Hintergrund so eine Aktion bringen?

Sie hat zumindest nochmal berechtigte Fragen in den öffentlichen Diskurs getragen. Oder sind Diskussionen über die Relevanz menschlicher Urheberschaft inzwischen ein Anachronismus?
Zumindest ist es eine elitäre Diskussion und wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob das die richtige Frage ist. Wir können doch nicht an der Tatsache vorbeischauen, dass es immer schwieriger wird, kreative Leistungen Menschen oder Maschinen zuzuordnen. Und das gilt nicht nur für das Schreiben.

Und was wäre die deiner Meinung nach richtige Frage?
Tja, so genau weiß ich das auch nicht. Rückblickend betrachtet frage ich mich, warum die kreative Avantgarde ins offene Messer gelaufen ist und sich durch ihre technologie-gestützten Arbeiten inzwischen selbst nahezu überflüssig gemacht hat. Durch ihre spielerischen Iterationen hat sie die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Nutzung eben dieser Technologien erheblich vorangetrieben und dabei verpasst unsere kulturellen Leistungen vor dem maschinellen Zugriff zu schützen.

Das werden die Kreativen aber nicht gerne hören. Was hätten sie denn anders machen können?
Vielleicht hat es sich wie ein Vorwurf angehört, aber so war es nicht gemeint. Ich stelle nur fest. Die Kreativen haben getan, was sie immer tun, ja, was ihre Aufgabe ist. Aber in diesem Fall haben sie mitgeholfen unsere kreative Kompetenz auf die Maschinen zu übertragen – und vielleicht war das nicht die beste Idee. Ich weiß es nicht. Aber schau Dir den Hausbetrieb vieler Verlage an. Er besteht inzwischen zu nicht geringen Teilen darin, die Bücher ihrer Autoren nach vermarktbaren Elementen zu durchsuchen und dann an die großen Dienstleister zu lizensieren. Ein endloser Harry Potter-Roman? Schon lange kein Problem mehr. Rowlings hat vor Jahren schon das HP-Universum offiziell freigegeben. Also einfach Abo abschließen und viel Spaß für den Rest deines Lebens. Und diese Texte schreibt doch kein Mensch mehr auf. Tatsache ist… die meisten Kreativen sind heute nur noch Feedbackäffchen für die Maschinen.

Aber wäre es genau deswegen nicht besonders wichtig menschliche Leistungen hervorzuheben?
Ja, dass wäre es. Es gibt ja solche Kennzeichnungen nicht nur in der Literatur… mir fällt da gerade Pure Human im Musikbusiness ein. Aber das sind hilfose Versuche, den Geist wieder in die Flasche zu bekommen. Schaffensprozesse können an so vielen Stellen automatisiert werden, dass niemand wirklich kontrollieren kann, wer wann welche technischen Hilfsmittel eingesetzt hat. Der Text eines Liedes, der Gesang, das Cover eines Buches, die Übersetzung eines Textes, die Fotoreihe, das Script für eine Serie, das Design einer neuen Lampe. Alles kann heute auch von Maschinen kommen. Das kann niemand mehr ernsthaft kontrollieren. Macht es da überhaupt noch Sinn, Glaubwürdigkeit im Sinne einer menschlichen Urheberschaft zu versprechen oder sie sogar zu verlangen? Ich schlage vor, dass wir einfach darauf verzichten…

Das ist ein radikaler Standpunkt. Was hältst du denn von den Aktionen maximaler Transparenz wie beispielsweise von Irma Hängler, die nur noch im öffentlichen Raum schreibt. Das ist ja das genaue Gegenteil deines Ansatzes…
Eigentlich ist Schreiben bewußte Vereinsamung. Gezielt öffentlich zu schreiben, verstehe ich deshalb als Provokation und nicht als Versuch sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen.  Und ich vermute, so ist es auch von Irma Hängler gemeint. Wie sonst sollte man die minütlichen Schreibstatistiken interpretieren, die jederzeit über sie abrufbar sind. Der Mensch als Schreibmaschine? Damit thematisiert sie ja genau das, was Takel gerade zum Verhängnis geworden ist. Soll bald jeder Schreibende auf dem Marktplatz sitzen?

Das bedeutet also, dass wir das Schreiben an die Maschinen verloren haben?
Naja, nach wie vor kann sich jeder hinsetzen und ein Buch schreiben, auch ein gutes. Aber das Schreiben besitzt kaum performatives Potential und das ist in der Glaubwürdigkeitsdebatte ein großer Nachteil. Was meinst du, warum das Angebot performativer Kunst in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert ist. Heute bestehen große Teile des für menschliche Künstler relevanten Kunstmarktes aus Performances, Livemusik, Theater, Tanz, Installation, Material, Bewegung, Raum. Und das sind nur einige der nicht- oder teildigitalen Ausdrucksformen, die durch die reale Präsentation gar nicht erst im Verdacht stehen durch Maschinen ‚gefälscht‘ worden zu sein.

Der Fall Takel könnte also auch der Sargnagel für professionelles humanes Schreiben werden, weil niemand mehr glaubt, dass ein Buch von einem Menschen geschrieben wurde?
Könnte sein. Wenn die Qualität der Maschinentexte weiter zulegt, wird es bald sehr schwierig werden, etwas Gleichwertiges zu erschaffen. Außerdem werden die Maschinen von uns so umfangreich gefüttert, dass ihnen die Ideen so schnell nicht ausgehen werden. Das ist sehr bitter, aber ich befürchte, dass wir uns darauf einstellen müssen.
Aber wir als Menschen können natürlich trotzdem weiterschreiben. Wenn jemand nach langem Berufsleben mit der Töpferei oder Yoga anfängt, weil er sich mit etwas Neuem auseinandersetzen möchte, freuen wir uns ja auch darüber. Aber etwas wirklich Relevantes kommt dabei eher selten zustande.

Das ist aber eine sehr düstere Perspektive: Der Mensch als Hobbyautor, während Maschinen die bedeutenden Werke abliefern. Mit dieser Perspektive wirst Du Dich sicher auch nicht zufrieden geben. Ernsthaft: was können wir dagegen unternehmen?
Ja, wahrscheinlich übertreibe ich… Und vielleicht gibt es ein paar Ideen wie es weitergehen kann. Zuerst einmal sollte die Urheberschaft keine Rolle mehr spielen. Wenn ein interessanter Mensch etwas geschaffen hat, dann können wir ihn bewundern, seinen Lebensweg nachverfolgen, ihm lauschen, ihn lesen – aber wir sollten niemanden zwingen den Beweis seiner Urheberschaft zu erbringen, denn das ist nicht mehr möglich. Wenn wir gelassener mit diesem Thema umgehen, können auch Künstler wieder gelassener werden. Wir brauchen Entspannung und keine Hexenjagd.
Und viel wichtiger… wir müssen noch unberechenbarer, noch kinetischer werden. Irrational. Emotional. Körperlich. Wenar Takel selbst hat das mal als ‚Maschinenverwirren durch unsere kostbare humane Instabilität‘ bezeichnet. Besser kann ich es auch nicht sagen. Wir sollten es wenigstens versuchen.

In diesem Sinne, machen wir doch einfach noch etwas Verrücktes heute… Danke, David!

Markus van Well

  1. Subliminal_Guy 28. Mai 2018 um 9:30

    Ich ahnte solches schon im Jahre 2014, habe aber damals geschlussfolgert, dass AIs nie Texte mit „Werkcharakter“ schreiben können würden: „Der Autor im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (https://realvinylz.net/?p=6876)
    Habe mich wohl leider geirrt …

  2. Sehr guter Text, aber leider ist es wirklich anders gekommen. Vielleicht haben wir die Einzigartigkeit unserer Kreativität überschätzt – wäre ja nicht das erste Mal, dass wir uns zu Unrecht für unnachahmlich und einzigartig gehalten haben. Und ob die Maschinen wirklich ‚kreativ‘ sind oder das nahezu perfekt simulieren, spielt für eine pragmatisch agierende Wirtschaft und Politik keine Rolle. Hier zählt nur das Ergebnis. Und solange die Konsumenten mitmachen und Bequemlichkeit, Personalisierbarkeit und niedrige Kosten bevorzugen, sind (fast) alle zufrieden. Die gesellschaftlichen Auswirkungen davon versuchen wir hier zu beleuchten und sind weiterhin dankbar für jedes Feedback.

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