Spiel, Therapie oder doch ideales KI-Training, um endlich die letzten Abgründe der menschlichen Seele zu ergründen? Wahrscheinlich ist ‚Dialogs‘ alles auf einmal, meint unser Autor und schwankt zwischen Begeisterung und Verstörung.
Reboot Kindheitserinnerung
Some here are not real – work together and find them.
Wer wie ich in den zwanziger Jahren groß geworden ist, erinnert sich bestimmt noch an das niedliche VR-Kinderspiel ‚Campfire‘? Ich habe es geliebt und meine Eltern mussten mir die Brille vom Gesicht zerren, um mich von diesem magischen Lagerfeuer wegzubekommen.
Spielprinzip – einfach und gut
Das Setting war simple, das Spielprinzip auch. Zehn Comic-Wesen saßen um ein Lagerfeuer, doch nur hinter einigen davon verbargen sich reale Kinder. Ziel: durch geschicktes Fragen und genaues Zuhören mussten die virtuellen Mitspieler identifiziert und aus dem Spiel geworfen werden – sozusagen ein kindgerechter Turing-Test. Und der bärtige Mr. Sprot und die elfenhafte Miss K. schlichen währenddessen ums Lagerfeuer und passten auf, dass die Kinderhorde nicht aus dem Ruder lief.
Umstrittenes Spiel
Es gab damals heftige Diskussionen um das Spiel. Einige sahen in der intensiven Vermischung realer und künstlicher Charaktere eine Gefahr für den Realitätssinn junger Menschen, während andere den unangemessenen Umgang mit den künstlichen Identitäten bemängelten.
Mir war das alles egal. Ich konnte nicht genug bekommen, auch wenn die virtuellen Charaktere aus heutiger Sicht ziemlich dumm und leicht zu durchschauen waren.
Reden statt Ballern
Und jetzt hat Connex:Games mit ‚Dialogs‘ einen inoffiziellen Nachfolger veröffentlicht, den ich allein schon aus Nostalgie antesten musste. Am letzten Wochenende war es dann endlich soweit. Nach zwei Wochen ungeduldigen Wartens erhielt ich meinen Zugangscode. Also Headset auf und los.
Meine erste Session
Ich sitze in einem Raum. Alleine. Es ist ein schöner, heller Raum mit Blick in einen weitläufigen Garten. Die Einrichtung ist schlicht, aber elegant. So wie sich jemand mit Geld sein heimisches Arbeitszimmer einrichten würde. Die Darstellung ist außergewöhnlich präzise und detailiert. Gerade staune ich über einen Käfer, der am Fenster entlang krabbelt als eine Frau mittleren Alters eintritt. Sie ist freundlich und verwickelt mich umgehend in ein Gespräch.
Ich bin hingerissen. Diese Frau kann unmöglich eine virtuelle Person sein. Sie bewegt und verhält sich vollkommen menschlich und reagiert auf kleinste Details meiner Gesprächsführung, meiner Mimik und Gestik. Unmerklich zieht sie mich tiefer in ihre Geschichte hinein. Sie stellt mir Fragen, erzählt vieles und plötzlich wird mir klar, dass dies gerade die Setup-Phase des Spiels ist. Ich bin begeistert wie genial beiläufig das geschieht. Und dann entlässt sie mich auch schon mit den Worten: „Du musst mir helfen. Ich verlasse mich auf Dich.“
Und schon entsteht um mich herum eine neue Umgebung. Ein Jugendzimmer, düster und unordentlich. Die Detailfülle ist atemberaubend: ein Schreibtisch voller Kram, halb abgerissene Poster, kaputte Spielsachen, Fotos und vieles mehr. Eine Anweisung schwebt im Raum. „Gewinne sein Vertrauen!“ Und dann entdecke ich meinen nächsten Gesprächspartner. Es ist ein Junge, vielleicht 15 Jahre, der im hinteren Teil des dunklen Raumes an der Wand hockt. Er beobachtet mich aufmerksam und ruft mir dann entgegen: „Verschwinden Sie!“
Zehn Menschen kennengelernt
Meine erste Session in ‚Dialogs‘ dauert sechs Stunden und neben meiner ‚Auftraggeberin‘ spreche ich währenddessen mit neun weiteren Personen:
- dem verstörten Jungen / Gewinne sein Vertrauen!
- einer alleinerziehenden Mutter / Hilf ihr!
- einem jungen Mädchen / Erzähl ihr nicht zu viel!
- einem wohlhabenden Ehepaar / Welches Geheimnis haben sie?
- einem indischen Gen-Forscher / Frag ihn nach Douglas!
- einer Schauspielerin, die dauernd telefoniert / Belausche ihre Gespräche!
- dem Vater der alleinerziehenden Mutter / Warum spricht er nicht mit seiner Tochter?
- einem Beamten / Wem gehört Sporex Inc.?
- einer alten Dame / Wo wurde sie geboren?
Intensiv und anstrengend
Nach der Session bin ich vollkommen fertig. Ich habe echte Menschen kennengelernt – so fühlt es sich zumindest an. Es läuft keine Uhr, es gibt keine Vorgaben, aber auch kein Gesprächsrezept. Ich kann über belangloses Zeug plappern oder nach Details aus der Umgebung fragen, ich kann direkt sein oder indirekt, schweigen geht auch. Die Reaktionen sind immer menschlich und nachvollziehbar.
Mit der alten Damen habe ich ausführlich über ihre Zeit in Shanghai und ihren verstorbenen Mann gesprochen. Sie ist sehr gebildet und viel rumgekommen. Mit ihr könnte man auch über Philosophie oder Politik sprechen – vielleicht mache ich das, wenn ich sie noch mal besuche. Wo sie geboren wurde, weiß ich allerdings noch nicht.
Überhaupt: die Aufgaben
Zufriedenstellende Antworten habe ich auch nach mehreren Sessions nicht gefunden und es sind noch zwölf weitere Gesprächspartner hinzukommen. Lediglich den Namen des Kochs weiß ich jetzt: Jean Gonin. Vielleicht lügt er aber auch, denn er scheint mir nicht sehr vertrauenswürdig zu sein.
Noch viel weniger kann ich mir vorstellen, wie die Personen und Geschichten zusammenhängen, wie sich alles zu einer großen Erzählung fügen soll.
Zum Glück taucht nach jedem Gespräch meine Auftraggeberin auf, um mich zu motivieren. Sie befragt mich zu meinen Fortschritten und gibt mir Tipps. Allerdings kommt es mir so vor als wüßte sie mehr als sie sagt. Wer weiß: vielleicht spielt sie ja ein böses Spiel mit mir. Doch ich befürchte, dass ich noch sehr viel Zeit hier verbringen muss, um das herauszufinden. Aber will ich das?
Beeindruckt. Verstört. Weitergespielt.
‚Dialogs‘ gibt vor ein Spiel zu sein. Dabei ist es viel mehr. Die kommunikativen Fähigkeiten der künstlichen Gesprächspartner sind beeindruckend, genauso wie die hyperrealistische Darstellung. Ernsthaft, meine Erinnerung gaukelt mir echte Gespräche mit echten Menschen vor. Ich möchte losrennen und der alleinerziehenden Mutter ein paar Klamotten für ihre Zwillinge besorgen.
Also keine Punkte mehr sammeln oder Quests bearbeiten, sondern reale menschliche Probleme lösen. Ich fühle mich ernsthaft verantwortlich. Das ist verstörend. Vielleicht sollte man das Uncanny Valley doch nicht durchschreiten, auch wenn man es kann.
100% Individualisierung
Und die Bindungskraft des Spiels wird zusätzlich verstärkt, da jeder Spieler sein ganz persönliches Szenario erhält. Also immer neue Charaktere, immer neue Aufträge. Unweigerlich fragt man sich auf welcher Grundlage diese Vielfalt zustande kommt. Dazu sagte Chefentwickler Denis Caspar in einem MATERIAL-Talk Folgendes:
“ ‚Dialogs‘ arbeitet vollständig rekursiv. Alle Informationen, die wir für ein maximal individualisiertes Spielerlebnis benötigen, erheben wir ununterbrochen innerhalb des Spiels und nutzen diese für die weitere Ausgestaltung des Szenarios. Dieser Prozess ist fundamentaler Bestandteil unserer Spieldynamik. Der Spieler selbst ist das Spiel.“
Eine faszinierende Vorstellung, aber ein Spiel ist das nicht mehr. Es klingt mehr nach Selbsterfahrung, vielleicht sogar Therapie. Warum hat das Spiel genau diese Personen für mich erschaffen? Sagt das wirklich etwas über mich aus? Und wenn ja was? Werde ich vielleicht therapiert oder beeinflusst? Wenn ja, mit welchem Ziel?
Auf all diese Fragen gibt es von CONNEX:GAMES nur nebulöse Antworten. Wahrscheinlich kann ich gerade deswegen nicht aufhören, über die weitreichenden Auswirkungen dieser Vorgehensweise nachzudenken. Wieviel möchte ich von mir preisgeben? Oder anders: wieviel kann ich überhaupt geheim halten? Möchte ich, dass mich ein Spiel besser kennt als alle Menschen auf der Welt, vielleicht sogar besser als ich mich selbst?
Und mir wird klar: es fehlt die Einfachheit und Unschuldigkeit von Campfire. Stattdessen ist Dialogs maximal immersiv und auf eine unangenehme Art anstrengend – es fühlt sich an wie Arbeit. Aber vielleicht geht es ja auch nicht um ein angenehmes Spielerlebnis für mich.
Feed the machine?
Auf der Metaebene wird es nämlich noch viel interessanter. Millionen Stunden intensiver Gespräche, immer wieder nachjustiert durch eine wissbegierige KI. Das ist eine wirklich umfassende Durchleuchtung der menschlichen Psyche, vielleicht die intensivste überhaupt. Kaum auszudenken, auf welchem Wissensschatz Connex:Games da sitzt.
Umso gruseliger ist die Vorstellung, wie Horden unterbelichteter Spinner durch das Spiel marodieren und welche Obszönitäten und Gemeinheiten sich die virtuellen Charaktere anhören müssen. Was bedeutet das für das Menschenbild, dass sich die KI daraus zusammenbaut? Und was wird sie mit diesem Wissen anstellen?
Ein beängstigender Gedanke! Ich muss wohl doch noch mal rein – mit der alten Dame plaudern, dem Jungen helfen, den Vater beruhigen. Das Ansehen der Menschheit retten.